Die Cigales: besser als ihr Ruf

Die Cigales in der Provence sind ein Symbol fuer Lebensfreude aber auch fuer Pflichtvergessenheit: Sie sitzen in der Sonne und fiedeln vor sich hin, waehrend woanders schwer gearbeitet und verantwortungsvoll für die Zukunft geplant wird. Dieses Image, das mit der Realitaet nichts zu tun hat, geht auf die, zumindest jedem franzoesischen Kind, gelaeufige Fabel von der Grille und der Ameise zurueck, die auf Franzoesisch und Deutsch wie folgt lautet:

La Cigale et la Fourmi

La Cigale, ayant chanté
Tout l'été,
Se trouva fort dépourvue
Quand la bise fut venue :
Pas un seul petit morceau
De mouche ou de vermisseau.
Elle alla crier famine
Chez la Fourmi sa voisine,
La priant de lui prêter
Quelque grain pour subsister
Jusqu'à la saison nouvelle.
"Je vous paierai, lui dit-elle,
Avant l'Oût, foi d'animal,
Intérêt et principal. "
La Fourmi n'est pas prêteuse :
C'est là son moindre défaut.
Que faisiez-vous au temps chaud ?
Dit-elle à cette emprunteuse.
- Nuit et jour à tout venant
Je chantais, ne vous déplaise.
- Vous chantiez ? j'en suis fort aise.
Eh bien! dansez maintenant.

JEAN DE LAFONTAINE (1621-1695)

(Quelle:http://www.jdlf.com/i1.htm)

Die Grille und die Ameise

Eine Grille, die da sang
sommerlang,
sah die Nahrung sich genommen,
als der Herbst ins Land gekommen;
ach, da gab es auch kein Stückchen
mehr von Fliege oder Mückchen,
drum zu ihrer Nachbarin Aemse
ging sie klagen hin,
bat, daß sie in ihrem Leide
ihr das nötige Getreide
bis zum nächsten Frühling lieh.
"Nimm mein Ehrenwort", sprach sie,
"daß ich bis zur Ernte zahl
Zinsen dir und Kapital."
Aemse hatte klugen Sinn,
der so schnell nicht jede leiht.
"Was tat'st du zur Sommerszeit?"
Sprach sie zu der Borgerin.
"Hab mich Tag und Nacht ergötzt
mit Gesang auf grüner Flur."
"So, gesungen hast du nur?
Nun wohlan, so tanze jetzt"

JEAN DE LAFONTAINE (1621-1695).

(Quelle:http://home.t
-online.de/home/Demetrius.Degen/fabeln01.htm)

Vermutlich hat Jean de Lafontaine sein biologisch falsches und moralisch fragwuerdiges Werk nicht einmal selbst erschaffen, sondern hat die Idee geklaut und ausgeschmückt: Es gibt eine Fabel "Die Ameisen und die Grille", die dem griechischen Dichter Aesop zugeschrieben wird. Er lebte angeblich Mitte des 6. Jahrhunderts vor Christus. Die Fabeln gehen wahrscheinlich auf mündliche Überlieferung zurück. Das Werk von Aesop ist nur in späteren Überarbeitungen erhalten.

De formica et cicada

quisquis torpentem passus transisse iuventam,
nec timuit vitae providus ante mala,
collectus senio, postquam gravis affuit aetas,
heu frustra alterius saepe rogabit opem.
solibus ereptos hiemi formica labores
distulit, et brevibus condidit ante cavis.
verum ubi candentes suscepit terra pruinas
arvaque sub rigido delituere gelu,
pigra nimis tantos non aequans corpore nimbos,
in laribus propriis humida grana legit.
discolor hanc precibus supplex alimenta rogabat,
quae quondam querulo ruperat arva sono:
«se quoque maturas cum tunderet area messis,
cantibus aestivos explicuisse dies.»
parvula tunc ridens sic est affata cicadam;
nam vitam pariter continuare solent:
«mi quoniam summo substantia parta labore est,
frigoribus mediis otia longa traho.
at tibi saltandi nunc ultima tempora restant,
cantibus est quoniam vita peracta prior.»

Esop oder Aesop

(Quelle: http://www.fh-augsburg.de/~harsch/avi_fa34.html)
Als Faksimile ener alten Handschrift zu lesen unter:
http://www.uni-
mannheim.de/mateo/desbillons/esop/seite138.html)

The Ants and the Grasshopper

The Ants were spending a
fine winter's day drying grain
collected in the summertime.
A Grasshopper, perishing
with famine, passed by and
earnestly begged for a little
food. The Ants inquired of
him, "Why did you not
treasure up food during the
summer?' He replied,
"I had not leisure enough. I
passed the days in singing."
They then said in derision:
"If you were foolish enough to sing
all the summer,
you must dance supperless to bed
in the winter."




Esop oder Aesop

(Quelle: http://www.inspirationalstories.com/4/471.html)

Daher kommt also die ungerechte Behandlung der Cigales. In Wirklichkeit leben sie im Sommer in ihrer oberirdischen Form lediglich vier bis zwoelf Wochen (genaueres siehe unter "Die Entwicklung der Cigale commune"). Dann sterben sie. Vorraete für den Winter brauchen sie also nicht anzulegen. In ihrer oberirdischenLebenszeit sorgen sie genau wie die Ameisen für die Fortpflanzung ihrer Art. Fideln tun die Maennchen, um die Weibchen anzulocken. Was ist daran verwerflich?

Zurueck zur Zikaden-Uebersichtsseite